“Das ist historisch gewachsen,” sagten meine neuen Kolleginnen, wenn ich sie fragte, warum die Dinge im Unternehmen so waren, wie sie waren. Niemand schien sich mehr so recht an den ursprünglichen Grund zu erinnern. Aber alle waren sich sicher, dass die bestehenden Routinen beizubehalten waren. Auch dann, wenn sie ihnen einiges an Schwierigkeiten bereiteten.
Das kam mir seltsam vor. Warum sollten Menschen etwas beibehalten, das sie stört?
Unflexible Entwicklerinnen und verkaufswütige Vertriebler
Die Schuldigen waren schnell gefunden. Je nachdem, wen ich fragte, war es das alte Mittelstands-Management, das neue Konzern-Management, die unflexible Entwicklungsmannschaft, oder der allzu verkaufsorientierte Vertrieb. Mein Arbeitgeber war ein ehemals inhabergeführtes Softwareunternehmen, das in einen der größten deutschen Industriekonzerne integriert worden war.
Es war meine erste Festanstellung in einer Organisation. Und der Beginn einer Lernreise, in der ich zu vestehen versuchte, was Veränderung in Organisationen schwierig machte.
Getrieben von dem Wunsch, etwas zu bewegen, startete ich meine eigenen Veränderungsprojekte. Brachte Personen, die mir für das Gelingen eines Projekts wichtig schienen, an einen Tisch. Vermittelte zwischen unterschiedlichen Perspektiven, setzte sie in den Kontext übergeordneter Ziele. Mit Erfolg.
Ich merkte, dass mir diese Veränderungsarbeit sehr viel mehr Freude bereitete als der Job, für den ich eingestellt worden war. Und widmete mich dem Thema ganz.
Unternehmer im Unternehmen
Das führte mich in die Personal- und Organisationsentwicklung eines Familienkonzerns. Als Teil eines Teams von internen Beratern versuchte ich, meiner Organisation dabei zu helfen, sich nicht zufrieden zu geben mit “das ist historisch gewachsen” oder “das haben wir schon immer so gemacht”.
Gelungen ist uns das, wenn wir die beteiligten Personen miteinander ins Gespräch brachten und selbst neue Wege erarbeiten ließen. Dann entdeckten Mitarbeiter benachbarter Produktionsbereiche plötzlich, dass die einen eine Maschine ungenutzt im Keller stehen hatten, die die anderen für ihre neue Produktlinie brauchten. Die Beteiligten waren so begeistert von ihrer gemeinsamen Entdeckung, dass sie gleich am nächsten Tag die Maschinenübergabe organisierten. Noch wenige Tage zuvor war das für sie undenkbar gewesen. So sehr war ihr Handeln von der Vorstellung geprägt, dass andere Bereiche sich nicht mit den eigenen Technologien auskannten, und man sie deshalb besser nicht um Unterstützung bat. Das war die Schattenseite einer über Jahrzehnte erfolgreichen Kultur der möglichst eigenständigen “Unternehmer im Unternehmen”.
Ich lernte, dass es ein eigener Job war, diese Art von Prozessen der gemeinsamen Problemlösung zu gestalten. Und ich lernte, dass es nicht immer leicht war, unsere Auftraggeber für diese Art von Change Management zu gewinnen. Erschien sie doch sehr viel aufwendiger und ihre Ergebnisse weniger vorhersehbar als die Beauftragung von Fachexperten mit der Erarbeitung von Optimierungsmaßnahmen.
Die Handbremse lösen
Wie man sich dennoch einen Auftrag für ungewohnte Wege beim Top Management holt, beschäftigte mich auch auf der nächsten Etappe meiner Lernreise. Als Teil des neu entstandenen zentralen HR-Teams einer Private-Equity-geführten Agenturgruppe versuchte ich, unsere heterogene Organisation beim Zusammenwachsen zu unterstützen. Und so die Vorteile zu realisieren, die sich der Investor von diesem Zusammenschluss versprach.
Know-How und Motivation im Team waren groß. Und passten nicht zu dem Bild, das unser Management von HR hatte. Glaubten wir jedenfalls.
Unsere Überraschung hätte daher nicht größer sein können, als uns ausgerechnet unser zahlenorientierter CFO bei der Vorstellung unserer neuen HR-Mission fragte: “Jetzt mal ehrlich: Das ist doch angezogene Handbremse. Sagt mir doch einfach, was hier zwischen den Zeilen steht: Dass Ihr mehr wollt.”
Uns wurde klar, dass wir zwar viel über die Erwartungen unseres Managements sprachen. Bisher jedoch kaum mit ihm. Das änderte sich nach diesem Schlüsselerlebnis. Nicht alle Hürden waren dadurch aus dem Weg geräumt. Aber im Dialog wurden ungeahnte Gemeinsamkeiten sichtbar und Unterschiede bearbeitbar.
Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie *
Parallel zu diesen Erfahrungen beschäftigte ich mich mit systemischer Organisationstheorie. Sie lieferte mir neue, teilweise überraschende Erklärungen für meine Erlebnisse.
Ich lernte, dass gemeinsame Verhaltensmuster und Routinen einen wichtigen Zweck für soziale Systeme im Allgemeinen und Organisationen im Besonderen erfüllten. Ohne solche Muster wäre eine zielgerichtete Zusammenarbeit der Organisationsmitglieder gar nicht möglich. Über jede Frage müsste immer wieder neu entschieden werden. Was ist unsere Aufgabe? Wer macht was? Wie treffen wir Entscheidungen? Wie gehen wir mit Konflikten um? Das wäre selbst bei kleinen Organisationen nicht effizient.
Besonders effizient sind diese Muster auch deshalb, weil ein Teil von ihnen unbewusst abläuft. Wir müssen nicht darüber nachdenken, wie wir in einer bestimmten Situation agieren, sondern orientieren uns ganz automatisch an den Mustern unserer Organisation. Historisch gewachsen, das steckte also dahinter.
Doch damit nicht genug. Organisationen verfügen über ausgeklügelte Abwehrmechanismen, mit denen sie sich vor einer Veränderung ihrer Muster schützen. Zum Beispiel, indem sie dafür sorgen, dass unterschiedliche Personengruppen sich gegenseitig die Schuld für den Stillstand in die Schuhe schieben. Mal waren es die unflexiblen Entwickler, mal das engstirnige Mittelstands-Management, mal der zahlenorientierte CFO.
Aus systemischer Perspektive waren es alle gemeinsam. Indem sie übereinander und nicht miteinander sprachen, hinderten sie sich selbst daran, gemeinsam Veränderungen auf den Weg zu bringen.
Eine neue Superkraft
Diese Sicht war für mich ernüchternd und ermutigend zugleich. Ich musste damit rechnen, dass mir diese Phänomene immer wieder begegnen würden, wenn es um Veränderung in Organisationen ging. Nicht die eine Organisation tat sich mit Veränderung schwer. Sondern alle Organisationen taten sich schwer, wenn eine Veränderung ihre unbewussten gemeinsamen Muster infrage stellte. Der Konflikt zwischen Mittelständlern und Konzernern, der fehlende Austausch zwischen den Unternehmern im Unternehmen, unser zögerliches Agieren gegenüber dem CFO… all dass waren nur Symptome.
Der Schlüssel zur Veränderung musste darin liegen, diese Muster zu bearbeiten. Wenn ich mir diese Fähigkeit aneignete, würde ich praktisch jeder Organisation helfen können, ihre Veränderungshürden zu überwinden. Egal, worin genau die Veränderung im Einzelfall bestand.
Ich beschäftigte mich weiter mit dem Handwerkszeug der systemischen Beratung und veränderte Schritt für Schritt mein eigenes Verhalten in Veränderungsprozessen. Ich hörte auf, mich über vermeintlich starrsinnige Kolleginnen oder Führungskräfte zu ärgern, und fragte mich stattdessen, welches unbewusste Organisationsmuster hinter ihrem Verhalten steckte. Und wie ich selbst zur Aufrechterhaltung dieses Musters beitrug.
Berater sind auch nur Menschen
Die Frage nach meinem eigenen Beitrag zur Aufrechterhaltung von Mustern verlor auch dann nicht an Relevanz, als ich mich selbständig machte. Damit war ich zwar nicht mehr an die Muster der beratenen Organisation gebunden. Doch das schütze mich nicht davor, regelmäßig implizit dazu eingeladen zu werden, mich an ihnen zu beteiligen.
Da war zum Beispiel das Unternehmen, das seine mittlere Führungsebene stärken wollte. Und mich ohne Einbeziehung derselben damit beauftragte, der untersten Führungsebene die Erwartungen der Geschäftsführung zu vermitteln. Hätte ich diesen Auftrag eins-zu-eins angenommen, hätte ich der Organisation nicht bei der Lösung ihres Problems geholfen, sondern zu seiner Verfestigung beigetragen.
Solche Fallen zu erkennen und in wirksame Aufträge umzuwandeln, ist heute ein wesentlicher Erfolgsfaktor meiner Arbeit. Ich höre meinen Kunden und Auftraggebern aufmerksam zu. Aber ich gehorche ihnen nicht. Ich versuche, ihr Anliegen und ihre Ziele zu verstehen. Und nutze all mein Wissen über Muster und Abwehrmechanismen in Organisationen, um ihnen dabei zu helfen, diese Ziele zu erreichen.
Dazu gehört häufig, von Anfang an alternative Wege aufzuzeigen und anzubieten. Dazu gehört auch, dass nicht jedes dieser Angebote gleich angenommen wird. Meine Aufgabe als Beraterin sehe ich dann darin, dranzubleiben. Das gemeinsame Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Und einen nächsten passenden Moment zu finden, um die bestehenden Muster herauszufordern.
Was historisch gewachsen ist, lässt sich nicht in einem Tagesworkshop verändern. Sondern nur, indem die beteiligten Personen sich mit den Mustern ihrer Organisation auseinandersetzen und gemeinsam neue, organisationsspezifische Herangehensweisen erarbeiten. Ihnen das zu ermöglichen ist meine Aufgabe als systemische Organisationsberaterin.
Was waren zentrale Stationen und Erkenntnisse Ihrer und Deiner bisherigen Lernreise? Wie haben Sie Ihr Verhalten bei der Arbeit in und an Organisationen verändert? Und welche Fragen sind bisher unbeantwortet geblieben?
*) Zitat von Kurt Lewin
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