Mein Blog ist kaum einen Monat alt und da taucht die erste Gelegenheit zur Teilnahme an einer Blogparade auf: “Was sind Ihre Stärken?”, fragt Svenja Hofert. Herausforderung angenommen. Ich stelle mich der Frage. Aber Moment! Stärken… was bedeutet das überhaupt? Es gehört inzwischen fast zu den Gemeinplätzen der Personalentwicklung, Stärken zu stärken und stärkenorientiert zu denken und zu handeln. Aber die Frage, was Stärken eigentlich sind, ist mir noch nicht oft begegnet und ich habe sie mir bisher nicht ausdrücklich gestellt. Es wird also Zeit.
Stärken sind etwas, das ich besonders gut kann. Doch woher weiß ich, dass ich es besonders gut kann? Ich weiß es durch Vergleiche. Durch den Vergleich mit anderen Menschen, den Vergleich mit meinen anderen Fähigkeiten, den Vergleich mit den Erwartungen, die an mich gestellt werden. “Stärke” ist ein relativer Begriff. Nur im Abgleich mit den Anforderungen meines Umfelds kann ich sagen, ob etwas eine Stärke oder eine Schwäche ist. Eine bestimmte Eigenschaft kann in manchen Umgebungen eine Stärke, in anderen eine Schwäche sein.
Ein Beispiel: Eine meiner besonderen Stärken ist sprachliche Genauigkeit. Jedenfalls war sie das an der Uni. In meinem Romanistikstudium habe ich regelmäßig sehr gute Noten für meine Übersetzungen erhalten, weil ich nicht das erstbeste Wort aus dem Wörterbuch genutzt, sondern genau überlegt habe, welches die angemessene Übersetzung im jeweiligen Kontext ist. Doch das setzte voraus, dass ich Zugang zum Kontext hatte. Den hatte ich nur noch sehr begrenzt, als ich nach dem Studium als Softwarelokalisiererin arbeitete. Ich musste Texte übersetzen, von denen ich nicht immer wusste, in welchem Zusammenhang sie dem Nutzer auf der Softwareoberfläche angezeigt werden. Das hat mich anfangs blockiert. Meine vermeintliche Stärke stellte sich plötzlich als hinderlich dar. Ich musste lernen, auf der Basis unzureichender Informationen Entscheidungen zu treffen.
Umgekehrt können auch vermeintliche Schwächen aus einer anderen Perspektive Stärken sein.
Ein Beispiel: Einer meiner ehemaligen Chefs sagte einmal zu mir, dass ich zu wenig Präsenz zeige. Ich müsse im Unternehmen sichtbarer werden, mich mehr zu Wort melden und offensiver auftreten. Damit schlug er in dieselbe Kerbe, in die meine Lehrer halbjährlich bei der Verkündung der mündlichen Noten geschlagen hatten: “Wenn du etwas sagst, ist es immer sehr klug und wertvoll, aber du sagst zu selten etwas.” Ich hatte gelernt, dass das eine Schwäche war. Also notierte ich mir das Feedback meines Chefs pflichtbewusst und hatte ab da immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich in einem Meeting erst einmal zuhörte statt mich selbst zu präsentieren. Erst im Laufe der Zeit machte ich die Erfahrung, dass andere meine Fähigkeit zuzuhören als Stärke sehr an mir schätzten. Durch diese Fähigkeit bin ich eine gute Moderatorin, Prozessberaterin, Vermittlerin. Sie ermöglicht es mir, auf die individuellen Bedürfnisse meiner Kunden einzugehen.
Was bedeutet diese Relativität von Stärken für das Mantra der Stärkenorientierung? Ich habe aufgehört, meine Eigenschaften und Fähigkeiten in die Schubladen “förderungswürdig” und “hinnehmbar” zu stecken. Ich habe gelernt, mir auch Dinge zuzutrauen, die ich nicht zu meinen Stärken zählte. Ich habe entschieden, mich nicht damit abzufinden, dass sie eben zu meinen Schwächen gehören. Ich habe gelernt – oder lerne noch -, alle meine Fähigkeiten zu nutzen und sie je nach Kontext einzusetzen. Die eigenen Stärken im Sinne von individuellen Talenten zu kennen, ist wichtig, um z.B. eine gute Passung zwischen Persönlichkeit und Beruf zu finden. Sich selbst auf diese zu reduzieren, schränkt uns in unserer Entwicklung und Anpassungsfähigkeit ein. Neben der Frage “Was sind meine Stärken?” sollten wir uns auch fragen: “Worin liegt die Stärke meiner Eigenschaften in einer bestimmten Situation?”
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